Das struktuelle Problem der Parteien in Deutschland

Parteien sind im politischen Alltag allgegenwärtig, aber für fast 99% der Bürger trotzdem die großen Unbekannten. Ob das schon seit ihrem Entstehen so ist, was heute in Parteien passiert, warum auch kluge und renommierte Parteipolitiker so selten austreten und ob Parteien für unsere Demokratie alternativlos sind, versucht dieser Text zu beantworten.

 

Politische Parteien waren noch nie in der Gesellschaft verankert.

Seit ihrem Entstehen zur Mitte des 19. Jahrhunderts haben Parteien in Deutschland es nie vermocht, relevante Zahlen von Bürgern zum Eintritt zu bewegen. Im Kaiserreich waren über die katholische Kirche und die organisierten Landwirte neben der zahlenmäßig stärksten SPD zwar einige hunderttausend Bürger parteinah in Vereinen organisiert, die tatsächlichen Mitgliederzahlen bewegten sich aber insgesamt auf ähnlichem Niveau bei ca. 2% der Bevölkerung (mit einem kurzzeitigen Ausreißer auf bis etwas mehr als 3% zwischen 1970 und 1989 in der Bundesrepublik). Im Gegensatz dazu sind allein in Sportvereinen ca. 23 Mio. Deutsche aktiv, hinzu kommen die zahlreichen Kulturvereine, Schützen, Feuerwehren etc.  – nicht ohne Grund werden die Deutschen gern „Vereinsmeier“ genannt. Es mangelt auch nicht an Parteigründungen. Laut Bundeswahlleiterin Brand sind aktuell 119 Parteien in Deutschland registriert (Stand 1.6.2023).

Zwei wichtige Ausnahmen sind zu nennen:

1a. Zwischen 1933 und 1945 gehörten der NSDAP bis zu 7 Mio. Mitglieder an (79 Mio. Einwohner 1939), die sich neben der Parteimitgliedschaft selbst aus einer Vielzahl von Fach- und Berufsverbänden sowie einem umfassenden Netzwerk aus Vereinen und Organisationen rekrutierten, die zwar statuarisch unabhängig, über Personen jedoch eng mit der Partei verzahnt waren. Schätzungen gehen davon aus, dass bis Kriegsende bis zu zwei Drittel der Deutschen in das NSDAP-Apparatenetzwerk eingebunden waren. Wie viele Bürger freiwillig oder unter Druck diesen Apparaten angehörten, soll hier nicht diskutiert werden. Zweifellos handelt es sich um eine offen totalitäre Staats- und Parteiorganisation, die bereits am 14. Juli 1933 mit dem Verbot der Parteineubildung von der Reichsregierung beschlossen wurde.

1b. In der DDR waren zwar neben der SED andere Parteien nominell zugelassen, spielten aber als sogenannte Blockparteien keine signifikante Rolle. Von 1,3 Mio. Mitgliedern nach der Zwangsvereinigung von KPD und SPD 1946 wuchs die SED bis 1989 auf 2,3 Mio. Mitglieder an, die Blockparteien hatten ca. 600.000 Mitglieder (bei ca. 17 Mio. Einwohnern). Das entspricht etwa 17% der Bevölkerung ohne die zahlreichen politischen Vorfeldorganisationen.

Heute sind in allen deutschen Parteien weniger als 1,3 Mio. Bürger organisiert (84 Mio. Einwohner).

Der Rückgang der wahlberechtigten Bevölkerung, das Sterben der familiär bedingten Parteimitgliedschaften bei CDU und SPD, die DDR-bedingte Parteiferne und eine seit langem bestehende generelle Parteiskepsis sind bekannte Ursachen.

 

Politische Relevanz der Parteien

Im Gegensatz dazu steht die politische Relevanz der in den Parlamenten vertretenen Parteien, ihrer Apparate und Vorfeldorganisationen. Allein die Parteien erhielten aus der staatlichen Parteienfinanzierung 200 Mio. EUR im Jahr 2021, davon entfielen 193 Mio. EUR auf die im Bundestag vertretenen Parteien. Da die Parteienfinanzierung nur dann ausgezahlt wird, wenn Parteien eine Eigenfinanzierung in mindestens ebendieser Höhe aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden vorweisen können, beträgt das geschätzte Finanzierungsvolumen der relevanten Parteien aktuell insgesamt > 400 Mio. EUR. Hinzu kommen die Steuergeldzuschüsse für die politischen Stiftungen von 660 Mio. EUR pro Jahr ohne Eigenmittel der Stiftungen.

Als nächstes ist der Parlamentsbetrieb zu nennen. Allein die Bundestagsfraktionen erhalten Fraktionsmittel in Höhe von 120 Mio. EUR jährlich (Stand 2021, vor Inflationsanstieg). Darin nicht enthalten sind die Sachleistungen in Gebäude, Infrastruktur, personeller Apparat des Bundestages. Darin ebenfalls nicht enthalten sind die Entschädigungszahlungen an die einzelnen Abgeordneten, die sich grob auf ca. 10 TEUR zu versteuernde Diät, 5 TEUR steuerfreie Kostenpauschale, persönliches Personalbudget für Mitarbeiter (ohne Arbeitgeberanteil Sozialabgaben) 23 TEUR und einer Netzkarte für die Deutsche Bahn belaufen. Für jeden Abgeordneten sind dies ca. 516 TEUR pro Jahr. Bei aktuell 736 Mitgliedern des 20. Deutschen Bundestages belaufen sich diese Kosten für die Abgeordneten auf 380 Mio. EUR (ohne Sonderzahlungen für Präsidenten und Sonderfunktionen). Ebenfalls hinzurechnen sind entsprechende Finanzierungen der sechzehn Landesparlamente, auf deren Auflistung hier verzichtet wird. Dort sind aktuell 1.900 Abgeordnete tätig, im EU-Parlament in Brüssel 96 deutsche Parlamentarier. Vorsichtig überschlagen summieren sich die Ausgaben für den Parlamentsbetrieb in Deutschland, Brüssel und Straßburg auf > 4 Milliarden EUR für deutsche Steuerzahler. Unbetrachtet bleiben hier auch die kommunalen Parlamente.

Dabei ist nicht nur die Höhe der direkten Ausgaben zu betrachten, sondern die Zahl der an den politischen Betrieb gekoppelten Mitarbeiter und deren Familien. Allein im Bundestag arbeiten 10.000 Mitarbeiter, 60.000 in allen EU-Institutionen, davon 32.000 in der EU-Kommission (geschätzt 15.000 deutsche Mitarbeiter), für Landtage und EU-Parlament ist von weiteren 7.000 Beschäftigten auszugehen. Auch die Parteiapparate beschäftigen auf Bundes-, Landes-, Kreis- und Ortsebene Mitarbeiter in Voll- und Teilzeit. Insgesamt sind damit im politischen Betrieb OHNE beteiligte Firmen, Vereine, politische Stiftungen, sogenannte NGOs zwischen 40.000 und 50.000 Personen beschäftigt, die reale Zahle der in den Politikbetrieb wirtschaftlich involvierten Bürger dürfte weit darüber liegen. Berücksichtigt man zudem, dass diese Mitarbeiterstellen mehrheitlich überdurchschnittlich gut dotiert sind und ein Mitarbeiter häufig eine Familie zu unterhalten hat, ergibt sich ein relevanter Personenkreis von mindestens 150.000 bis 300.000 Bürgern. In Relation zu den tatsächlichen Mitgliederzahlen der Parteien ist dies ein Anteil von 10-20%, die ein substanzielle finanzielles Interesse an einer Kontinuität des aktuellen Politikbetriebs haben.

 

Das Innenleben der Parteien

Parteien sind in noch stärkerem Maße als Vereine dem Zwang unterworfen, jede interne Entscheidung auf demokratischem Weg herbeizuführen, regelmäßig zu wiederholen (Personalwahlen) und dies umfangreich zu dokumentieren. Wer heute in eine Partei eintritt, um dort aktiv mitzuarbeiten und sich um eines der zahlreichen Mandate zu bewerben (auf kommunaler Ebene fehlen in allen Parteien potenzielle Mandatsträger), benötigt einen erheblichen Teil seiner Freizeit für Parteitage, Programmerstellung, Listenaufstellungen, Stammtische und weitere Veranstaltungen. Dabei sind zeitliche Verpflichtungen aus einem Mandat (Sitzungen, Ausschüsse, öffentliche Termine etc.) noch gar nicht berücksichtigt. Es benötigt daher neben Beharrlichkeit einen sehr persönlichen Antrieb zur Darstellung der eigenen Person, Freude an der Debatte und einem großen Interesse an Öffentlichkeit, um sich auf eine Karriere in einer strukturell gefestigten Partei einzulassen. In jungen Parteien verlaufen diese Prozesse kurz nach der Gründung weit weniger geordnet, doch schon nach wenigen Jahren unterliegen sie denselben Mechanismen wie alle anderen Parteien.

Anders als noch kurz nach dem zweiten Weltkrieg sind heute renommierte Fachleute, Forscher oder erfolgreiche Unternehmer in Parteien unterdurchschnittlich vertreten. Diese Entwicklung setzte bereits in den 1960er Jahren ein. Allein der zeitliche Aufwand und die menschlichen Auseinandersetzungen des Parteilebens sind für sie oft Grund genug, der aktiven Politik fernzubleiben. Die wenigen, die es dennoch wagen, sehen sich einer großen Anzahl von ehrgeizigen, aber intellektuell mittelmäßigen Parteifreunden gegenüber. Da das Mittelmaß stets in der Mehrheit ist, führt der gut gemeinte demokratische Filter bei parteiinternen Wahlen zur Ausdünnung fähigen Personals. Ebenso wirkungsvoll in dieser Hinsicht sind rhetorisch brillante, aber inhaltslose Reden auf Wahlparteitagen. Die Mehrzahl der Zuhörer fällt regelmäßig und zuverlässig auf die ansprechende Verpackung ohne Inhalt herein, während Bewerber mit eigenen politischen Ideen oft daran scheitern, dass der Zuhörer sich zuverlässiger an die einzelnen Divergenzen mit dem klugen Redner erinnert als an die zahlreicheren Übereinstimmungen.

Nicht zu vergessen: Es sind die Funktionäre auf allen Parteiebenen, die sich selbst in Mandate hineinhelfen, weil sie als Mitglieder oder Delegierte über ihre eigene Nominierung und die ihrer Parteifreunde abstimmen. Über Mitarbeiterpositionen winken weitere materielle Vorteile einer politischen Tätigkeit, und zwar bereits ab der kommunalen Ebene. Wer in einer demokratischen Partei über Listenwahlen, Intrigen, persönliche Abhängigkeiten und andere völlig demokratische Mechanismen in der Bundespolitik ankommt, hat zwar eine Vielzahl demokratischer Filter durchlaufen, die Qualität der auf diese Weise erfolgreichen Politiker hat jedoch bis dahin signifikant abgenommen.

Daher gilt: Eine Partei unterliegt immer einer strukturellen Negativauslese ihres Personals, die schon im Parteienrecht angelegt ist. Starke Führungsfiguren können das im besten Fall überdecken, verhindern lässt es sich kaum. Jede Partei unterliegt diesem Phänomen und mancher Charakterkopf der Bonner Republik, der sich noch in den 50er und 60er Jahren in seiner Partei durchsetzte, wäre heute schnell als zu eigensinnig und zu wenig Parteisoldat aussortiert.

 

Warum dann nicht austreten?

Die Antwort liegt in dem oben beschriebenen Mechanismus, der für all diejenigen, die ein parlamentarisches Mandat oberhalb der kommunalen Ebene anstreben, die Partei und die politische Betätigung zu einem wesentlichen Lebensinhalt wird, der auch im besten Fall Auswirkungen auf das gesamte persönliche Umfeld hat.

Der soziale Faktor „Partei“ als Verkörperung des eigenen Lebensgefühls, ursprünglich selbstgewählter Ziele, Traditionen etc. spielen für viele Parteimitglieder eine überragende Rolle. Familie, Freunde und die Sorge, nach einem Austritt nicht mehr dazuzugehören, fallen für viele stärker ins Gewicht als einzelne politische Programmpunkte. In einer Welt, in der das Privatleben seit den 1968er Jahren kontinuierlich politisiert wird und politische Meinungsverschiedenheiten immer häufiger zum Bruch persönlicher Beziehungen führen, ist das Verlassen einer Partei für viele auch eine existenzielle Frage.

Das schlagende Argument für bekannte und politisch renommierte Politiker neben den genannten ist jedoch ein anderes: Solange es außerhalb von herkömmlichen Parteistrukturen keine relevante Möglichkeit gibt, eine politische Betätigung fortzusetzen, gibt es keinen positiven Anreiz eine Partei zu verlassen und einen Neuanfang zu wagen. Die komplexen juristischen Anforderungen an eine Partei-Neugründung, die Zugangsbeschränkung zu den Parlamenten durch die 5%-Hürde ab der Landesebene, das mediale Ungleichgewicht zwischen freiheitlichen und kollektivistischen Journalisten, besonders im gebührenfinanzierten öffentlich-rechtlichen Rundfunk, sind nur einige der Problemfelder, auf die sich ein austrittswilliger Politiker begeben muss, wenn er über diesen Schritt nachdenkt. Denn eines wird außerhalb von Parteien schnell übersehen: Wer über einen Austritt nachdenkt oder ihn gar vollzieht, möchte dennoch in vielen Fällen weiter Politik machen, ist sehr wahrscheinlich noch stärker inhaltlich getrieben als diejenigen, die sich auf die parlamentarische Hinterbank zurückziehen und als Mehrheitsbeschaffer der jeweiligen Parteiführung im Austausch gegen einen sicheren Listenplatz bei der nächsten Wahl gern zur Verfügung stehen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die meisten Politiker vor einem Parteiaustritt zurückschrecken, zumal sie für eine weitere politische Betätigung vertrauensvolle Mitstreiter benötigen, die gerade in Parteien und ihrem Umfeld noch seltener anzutreffen sind als im normalen Leben.

Dazu eine wahre Anekdote:

Vor einigen Jahren fragte ich anlässlich eines parlamentarischen Abends im Bundestag einen CDU-Abgeordneten, der mit seiner Partei im Dauerstreit lag, warum er denn nicht endlich die CDU verlasse, da er seine konservativen Überzeugungen dort doch sowieso niemals werde umsetzen können. „Ich bin doch kein Verräter“, schallte es mir spontan entgegen. Aus Respekt vor der Person verkniff ich mir die Nachfrage, ob sich seine Wähler angesichts solcher Inkonsequenz nicht viel eher verraten fühlen müssten.

Kurzum: Der Apparat aus Parteien und Vorfeldorganisationen verwaltet die politische Macht und ist zudem ein relevanter Versorgungsbetrieb, den zu verlassen, umfangreiche Konsequenzen zeitigt – politisch, finanziell und sozial. Daher bleiben Kritiker lieber in ihren Parteien und nehmen in Kauf, dort nicht nur als Feigenblätter für kritische Wähler missbraucht, sondern innerhalb der Partei auch politisch kaltgestellt zu werden.

Damit ist in meinen Augen die ursprüngliche Idee politischer Parteien nahezu auf den Kopf gestellt: Eigentlich sollten sie doch Vermittler zwischen Bürgern und der politischen Welt sein. Inzwischen stehen sie stattdessen als demokratisches Hindernis zwischen den Wählern und dem Parlament.

 

Frischer Wind

Wer in Deutschland eine Partei gründen will, muss sich mit dem Parteiengesetz vertraut machen. Es beruht auf Artikel 21 des Grundgesetzes:

„Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muss demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben.“

So steht es in Artikel 21 Absatz 1 des Grundgesetzes. In Erörterungen über strukturelle Defizite unserer Demokratie kann man die oben beschriebene Negativauslese des politischen Personals nicht ignorieren, aber die Ursache dafür bleibt unerwähnt. Es gibt einen Satz in Artikel 21 Absatz 1, von dem eine fatale Wirkung ausgeht. Es ist ausgerechnet derjenige Satz, der auch bei gebildeten Lesern spontan wohl den größten Widerstand heraufbeschwört, sobald man seine Abschaffung fordert. Er lautet: „Ihre innere Ordnung muss demokratischen Grundsätzen entsprechen.“

Nur in der Demokratie wird Machtübergang friedlich gewährleistet, was in allen anderen Regierungsformen schwer vorstellbar und auch historisch nachvollziehbar ist. Damit hat sie gegenüber allen anderen Regierungsformen einen unschlagbaren Vorteil. Fast immer können Machthaber in undemokratischen Strukturen auch bei schlechten Leistungen nur mit Gewalt von ihren Machtpositionen verdrängt werden. Dieser Umstand macht Demokratie so unschlagbar konkurrenzfähig gegenüber anderen Regierungsformen. Auf staatlicher Ebene ist sie daher allein aus diesem Grunde anderen vorzuziehen. Was Demokratie hingegen nicht leistet, ist eine bessere Auswahl des Regierungspersonals. Im Gegenteil, sie unterscheidet gerade nicht zwischen gebildet und ungebildet, zwischen intelligent und dumm, zwischen fleißig und faul. Ich empfehle als Gedankenexperiment die theoretische Frage, wer wohl im Zeitalter von YouTube und Instagram nächster Bundespräsident unseres Landes wäre, wenn man in direkter Demokratie das Volk frei wählen ließe. Zwischen Jan Böhmermann, Günther Jauch und einem blauhaarigen Youtuber wäre qualitativ leider alles möglich.

Es ist absolut menschlich, dass durchschnittliche Menschen häufig durch­schnittliche Politiker wählen. Volksnähe ist vielen Wählern wichtiger als fachliche Expertise. Je mehr demokratische Filter und Stufen man innerhalb der Parteien einfügt, umso schwerer wiegt dieser Umstand. Insofern kann man die Personalauswahl in demokratischen Systemen eindeutig auf der Negativseite verbuchen.

Daher drängt sich die Frage auf: Warum darf es in Deutschland keine Partei geben, die selbst entscheidet, wie und nach welchen Regeln sie sich organisiert? Was wäre einzuwenden gegen ein von Frank Schäffler geführtes freies Wahlbündnis aus 200 Unternehmern und Fachleuten, die er persönlich ausgewählt hat? Was wäre falsch daran, wenn Sarah Wagenknecht für die Sozialisten mit einem ähnlich strukturierten Team anträte? Ganz ohne Listenwahl oder Parteistrukturen! Niemand wäre ja gezwungen, sich in diesen Strukturen zu engagieren oder solche Listen oder Personen zu wählen.

Es geht nicht darum, Parteien abzuschaffen, aber darum, Konkurrenz im politischen System zu ermöglichen, alternative Wege in die Parlamente zu eröffnen und dem Wähler, nicht den Parteitagsdelegierten, in einer demokratischen Wahl, das letzte Wort über die Auswahl ihrer Vertreter zu überlassen.

Häufig werden demokratische Prozesse wie eine heilige Kuh als allein möglicher Weg für politische Vereinigungen betrachtet. Dabei sind wir alle in unserem privaten und beruflichen Alltag ständig in nicht demokratische Strukturen eingebunden, die wir für vernünftig halten und nicht als Problem betrachten. Nicht zu vergessen: Gemeinsame Interessen, individuell vertraglich ausgehandelt und fixiert, bestimmen unser Berufsleben. Liebe und Vertrauen sind die Grundlage einer intakten Familie. Kein Unternehmen, keine Kirche und nicht einmal eine staatliche Behörde kann mit demokratischen Abstimmungen geführt werden, jeder Versuch führt in der Regel in Chaos, Auflösung oder Planwirtschaft. Nicht demokratische Strukturen sind in unserem Leben also die Norm.

Könnten sich Parteien oder besser Wahlbündnisse frei bilden, vergrößerte sich auf einen Schlag die direkte demokratische Auswahl für den Wähler. Ein Bündnis von Fachleuten, das dazu keine Parteistruktur, keine Sitzungen mit jedem willigen Irren, Diskussionen bis nach Mitternacht inklusive, führen müsste, könnte vom Wähler gewählt werden oder auch nicht. Endlich hätte die Wählerstimme wieder mehr Gewicht als heute die parteiinternen Netzwerke. Es ist vor allem das einzige Szenario, in dem sich überhaupt eine ausreichende Zahl relevanter Persönlichkeiten erweichen ließe, ihre Expertise in den Dienst der Politik zu stellen. Weniger wäre unter dem Strich viel mehr: Der Verzicht auf herkömmliche demokratische Parteistrukturen würde nicht die Demokratie aushöhlen, sondern eine größere Wahlfreiheit für den Bürger schaffen. Auf diese Weise könnte die Streichung von Artikel 21 Absatz 1, Satz 3 des Grundgesetzes unserer Demokratie zu neuer Blüte verhelfen.

Als ich Anfang des Jahres 2013 für die Gründung einer neuen Partei plädierte, war ich entschlossen, anders und besser Politik zu machen als die etablierten Parteien. Heute muss ich konstatieren, dass die AfD innerhalb nur weniger Jahre alle ihre diesbezüglichen Ansprüche aufgegeben hat. Genaugenommen haben wir bereits 2013 gravierende strukturelle Fehler begangen, die sich später nicht mehr beheben ließen. Das derzeitige Parteiensystem führt offensichtlich in immer dieselben Sackgassen.

Heute benötigt unsere Gesellschaft und umso mehr unsere Parteienlandschaft dringend frischen Wind. Der weht jedoch seit langem nicht mehr in den Parteizentralen. Wer engagierte und fähige Bürger für die Politik gewinnen will, darf sie nicht in Strukturen verschleißen, die sich häufig nur um sich selbst und nur selten um die Herausforderungen des realen Lebens bemühen.

Marktwirtschaftliche Gesellschaften ziehen ihre Stärke daraus, Realitäten zur Kenntnis zu nehmen und den Menschen zu nehmen, wie er ist. Sie wollen ihn nicht umformen. Menschliche Antriebe wie Gier, Geltungssucht, Machtstreben, werden nicht unterbunden, aber in Bahnen gelenkt, die nützliche Nebenwirkungen, wie gesamtgesellschaftlichen Wohlstand mit sich bringen. Der Unternehmer, gleich ob Menschenfreund oder Schinder, kann nur Erfolg haben, wenn er seine Kunden zufriedenstellt, seine Lieferanten bezahlt und akzeptable Arbeitsplätze für seine Mitarbeiter schafft.

In der Politik hängen wir hingegen idealisierten Vorstellungen davon nach, welchen Antrieben auch Politiker folgen. Diese nicht immer nur edlen Motive systematisch nutzbar zu machen, statt sie zu negieren und damit strukturelles Versagen zu fördern, müsste ein gutes demokratisches System leisten. Den Wettbewerb der konkurrierenden Organisationen zu erhöhen, ihn über die Parteien hinaus überhaupt zuzulassen, wäre ein Anfang. Erfolg hat, was sich durchsetzt. Ich bin mir sicher, Parteien wären gegen freie Wahlbündnisse oder andere Strukturen chancenlos und in kürzester Zeit vom politischen Markt verschwunden – weil sie strukturell dysfunktional sind. Für die meisten Vertreter der etablierten Parteien mag das heute ein Schreckensszenario sein, aber es wäre eine große Chance für gelebte Demokratie in unserem Land.

Quellen:

www.de.statista.com

www.bundestag.de

www.wahlleiterin.de

www.bpb.de

Petry, Frauke; Requiem für die AfD, Stadtluftverlag, 2021.

Das struktuelle Problem der Parteien in Deutschland
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Ein Kommentar zu „Das struktuelle Problem der Parteien in Deutschland

  • 15. August 2023 um 02:03 Uhr
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    Das klingt sehr interessant und da
    ist viel wahres dran. Aber der deutsche Michel ist schon so manipuliert, dass ihm solche Ideen suspekt sind. Er hat sich dran gewöhnt und denkt, dass er mit seiner Wahl einer Partei seine demokratische Pflicht erfüllt hat. Er hat auch noch nicht mitbekommen, dass ihm da nur was vorgegaukelt wird. Politische Entscheidungen werden ganz woanders getroffen. Welche Marionetten sie am Ende umsetzen ist vollkommen egal, also sind auch Wahlen am Ende egal, vor allem in unserem Land.
    Das ist meine Meinung.

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