… und meine Familie (ein Auszug aus meinem Buch „Requiem für die AfD“)
Hin und her auf demselben Breitengrad
„Wir werden es wohl nicht mehr erleben, aber ihr werdet in eurem Leben den Kölner Dom am Rhein besuchen und sehen, wo die Elbe in die Nordsee mündet.“ Dieser Satz meines Vaters ist über 35 Jahre alt und jagt mir immer noch einen Schauer über den Rücken. Meine Eltern hatten sich mit Rücksicht auf die Familie dagegen entschieden, sich im Jahr 1984 der neuerlichen Ausreisewelle in die Bundesrepublik anzuschließen, obwohl mein Vater schon länger darüber nachdachte, die DDR zu verlassen. Zu groß war das Risiko, aus fadenscheinigen Gründen hinter Gittern zu verschwinden, zu groß das Risiko, das unter großen Anstrengungen selbst gebaute Haus zu verlieren, weil der Staat sich das Eigentum von „Republikflüchtigen“ nach DDR-Gesetzen regelmäßig unter den Nagel riss. Weiteres mochten wir uns gar nicht ausmalen.
Mein Vater hat sich übrigens geirrt: Er sah den Rhein und den Kölner Dom auch selbst und zum ersten Mal in seinem Leben im Jahr 1986, als er aus Anlass einer Familienfeier seinen einzigen Bruder nach über 30 Jahren der Trennung erstmalig besuchen durfte. Zwar kehrte er nach zehn Tagen hinter den Eisernen Vorhang zurück, aber das Virus der Freiheit ließ sich nicht wieder einsperren. Dieses hatte ihn allerdings schon viel früher befallen. Jedes Jahr im Sommer fuhren unsere Eltern mit uns zum Camping auf die kleine Insel Ummanz vor der Westküste Rügens, von wo aus wir bei gutem Wetter mit unserem Motorboot die gut sechs Kilometer bis zum Südstrand der Insel Hiddensee zurücklegten. Hiddensee liegt wie ein Seepferdchen aus Sand und lockeren Kiefernwäldchen zwischen Boddengewässern und Ostsee und war bei risikobereiten Fluchtwilligen für seine vermeintlich günstige geografische Ausgangslage bekannt. Bei klarer Sicht konnte man vom Dornbusch im Norden der Insel in der Ferne die dänische Insel Møn erspähen, und es gehörte zu den unabdingbaren Familientraditionen, sich diesen Blick in die Freiheit einmal pro Jahr zu gönnen.
Aber eine Flucht über die Ostsee kam für meinen Vater nie wirklich in Frage. Doch durch sein schon immer etwas loses Mundwerk geraten wir dennoch als Familie in das Visier der Staatssicherheit, denn mit einem Camping-Bekannten diskutierte er über die für Sportbootfahrer offiziell verfügbaren Seekarten und ließ dabei eine flapsige Bemerkung zu Fluchtmöglichkeiten über die Ostsee fallen. Es war nicht mehr als ein Scherz, aber in der DDR-Diktatur hatte er gravierende Folgen. Mein Vater ahnte damals nicht, dass sein Bekannter zum unüberschaubar großen Kreis der inoffiziellen oder auch informellen Mitarbeiter (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS, auch Stasi) gehörte. Dieser Bekannte hielt es nun für seine Staatsbürgerpflicht, seinen Verdacht, auf potenzielle Republikflüchtige gestoßen zu sein, umgehend seiner zuständigen Behörde zu melden. Von der Insel Rügen wurde die Meldung über die Bezirksstelle in Cottbus bis in das Chemiekombinat Schwarzheide, in dem meine Eltern arbeiteten, weitergereicht. Auf diese Weise wurde der lockere Scherz meines Vaters zum veritablen Karrierekiller für meine beiden Eltern. Ab sofort standen beide, ohne auch nur die geringste Ahnung davon zu haben, unter sogenannter OPK (operativer Personenkontrolle) und wurden entsprechend behandelt. Bei Beförderungen und Leistungszulagen wurden sie in der Folgezeit konsequent übergangen, selbst Dienstreisen in das „befreundete sozialistische Ausland“ kamen für sie nicht mehr in Betracht. Meinen Vater setzte man innerhalb des Betriebes um; ab sofort teilte ein zuverlässiger Genosse zur Sicherheit das Büro mit ihm. Von all den Gründen der beruflichen Zurücksetzung erfuhren meine Eltern zunächst nichts. Dass sie zeitweilig von bis zu 26 offiziellen und anonymen inoffiziellen Stasi-Mitarbeitern „betreut“ worden waren, lasen sie erst nach dem Zusammenbruch der DDR in ihrer umfangreichen, wenn auch nicht vollständigen, Stasi-Akte. Bis dahin vergingen aber noch über 20 Jahre.
Es brauchte noch einen zweiten und schließlich dritten Anlauf, bis mein Vater am 1. März 1989 endgültig in den Zug in Richtung Westen stieg. Niemand ahnte, was sich wenige Monate danach in der DDR, in Ungarn und in der Tschechoslowakei abspielen würde und wie nahe das tatsächliche Ende der DDR bereits war. Mein Vater war mit seiner Geduld mit diesem Staat am Ende, er wollte endlich raus. Wieder war es eine Einladung seines Bruders, die ihm eine zehntägigen Besuchsreise in die Bundesrepublik ermöglichte. Offiziell sollte er danach in die DDR zurückkehren, doch wir wussten beim Abschied nicht, wann wir uns wiedersehen würden. Zwar konnte es niemand genau vorhersagen, aber nach den Erfahrungen anderer Ausgereister rechneten wir damit, dass, mit meinem Vater bereits im Westen, der Plan einer Familienzusammenführung schneller funktionieren würde, als wenn wir gemeinsam aus der DDR heraus einen Ausreiseantrag stellten. Letzterer wäre zudem mit weiteren Risiken für meine Eltern, wie zum Beispiel dem Verlust des Arbeitsplatzes, verbunden gewesen. Über seine Fluchtpläne waren neben meiner Mutter, meiner Schwester und mir nur seine beiden vermeintlich engsten Freunde informiert, und schon diese Anzahl Mitwisser grenzte im DDR-Regime an Sorglosigkeit. In seinem Reisegepäck trug mein Vater gut versteckt Kopien der wichtigsten Zeugnisse und Urkunden bei sich und musste dafür beten, dass sie als Indiz möglicher Fluchtpläne an der Grenze unentdeckt bleiben würden.
Für uns drei trat knapp zwei Wochen nach der Abreise meines Vaters der Ernstfall ein: Als er nicht mit dem zur besseren Tarnung vorab reservierten Fernzug eintraf und meine Mutter telegrafisch über seinen Entschluss informierte, die DDR dauerhaft zu verlassen, rollte die erprobte Maschinerie des Überwachungsstaates an. Erwartungsgemäß wurden meine Mutter und später auch wir Schwestern in der Schule wiederholt von den Sicherheitsorganen zur nunmehr offiziell erkennbaren Republikflucht meines Vaters befragt. Die Kriminalpolizei eröffnete ein Ermittlungsverfahren gegen meinen Vater, in dem meine Mutter als Zeugin vernommen wurde. Sie erzählte uns danach, dass man versucht hatte, sie der Mitwisserschaft zur Straftat „Republikflucht“ zu überführen und ihr nahelegte die Scheidung einzureichen. Wochenlang hatten wir zuvor zu Hause die Antworten auf einschlägige Fragen geübt. Wir durften niemanden, auch nicht die besten Freunde, ins Vertrauen ziehen, wobei uns einige unsere Ahnungslosigkeit nicht abnahmen. Offiziell wussten wir nichts über die Fluchtgründe meines Vaters. Unsere Gefühlslage bewegte sich zwischen Traurigkeit über seine Abwesenheit und ständiger innerer Wachsamkeit. Ich war schon immer eine schlechte Schauspielerin und auch erst 13 Jahre alt, aber in den Frühlingsmonaten 1989 durfte niemand von uns nur den kleinsten Fehler machen, um den „Organen“ nicht doch noch Anhaltspunkte für die Unterstützung einer Straftat zu liefern.
Meiner Mutter verkündete man, dass das Eigentum meines Vaters durch die strafbare Handlung seiner Republikflucht unter die Treuhänderschaft des DDR-Staats fiele. Dazu zählte auch die Hälfte des selbst gebauten Hauses meiner Eltern, über das der Rat des Kreises Senftenberg nun verfügen wollte. Sie könne die Hälfte meines Vaters nach einer offiziellen Taxierung hälftig vom Staat zurückkaufen, ließ man meine Mutter schriftlich wissen. Als ich verstand, was das für den Fall des baldigen Vollzugs dieses staatlich sanktionierten Diebstahls bedeutete, war ich entsetzt und wütend, aber – genau wie meine Mutter – völlig machtlos.
Meine Schwester stand im Frühjahr 1989 kurz vor den Abiturprüfungen, und wir zitterten, ob sie zu diesen unter den Umständen überhaupt noch zugelassen würde. Es war eine beliebte Rache der DDR-Staatsmacht, Kindern von Systemkritikern oder gar Republikflüchtigen das Ablegen der Abiturprüfungen zu verweigern, also eine Art Sippenhaft zu praktizieren. Wir hatten jedoch Glück, denn die DDR-Überwachungsorgane plagten zu dieser Zeit mit all ihren Auflösungserscheinungen sicher schon ganz andere Sorgen. Meine Schwester durfte ihr Abitur machen, bestand es trotz der angespannten Situation mit Bravour und hatte damit den Grundstein für eine selbstbestimmte Zukunft gelegt. Danach fuhren wir zum ersten Mal in meinem Leben ohne meinen Vater im Sommer 1989 an die Ostsee. Wir drei Frauen brauchten ein paar Tage Erholung auf unserem vertrauten Campingplatz und Abstand von den Ereignissen der letzten Monate. Wichtige Dokumente, wie das Abiturzeugnis meiner Schwester, versteckten wir vor der Abreise an einem sicheren Ort, denn vor dem willkürlichen Zugriff des Staates war niemand jemals sicher, zumal wenn unser Haus drei Wochen ohne durchgehende Aufsicht war. Nach dem Urlaub traten wir im August 1989 zu dritt den Gang zur Außenstelle des Ministeriums des Innern an und beantragten die Ausreise aus der DDR zwecks Familienzusammenführung mit meinem Vater. Obwohl ein kleiner Schritt, fühlte er sich wie ein Befreiungsschlag erster Güte an.